„Auf Tuchfühlung“ — ein Straßentheaterprotest zu Buen Vivir
In einer Straßentheateraktion äußerte am 8. August 2020 eine Gruppe von Frauen* auf der Mariahilfer Straße, einer bekannten Wiener Einkaufsmeile, öffentlich Protest. Sie orientierte sich am südamerikanischen Gesellschaftskonzept Buen Vivir – Gutes Leben für alle und richtete ihren Protest gegen textile Überproduktion und verschwenderisches Konsumverhalten.
Die Textilbranche ist ein wichtiger Sektor des Kapitalismus und ältester Zweig der Konsumgüterindustrie. Sie produziert ihre Waren besonders in Ländern des globalen Südens, beutet dabei Arbeitskräfte und Ressourcen aus und verfestigt globale sozial-ökonomische und -ökologische Ungleichheiten. Die Straßentheateraktion setzte sich zum Ziel, auf Handlungskompetenzen der Konsument*innen und auf alternative Konsumpraktiken im Kontext von Bekleidung aufmerksam zu machen.
Buen Vivir – Sumak Kawsay – Das Gute Leben für alle
Buen Vivir ist die spanische Übersetzung von Sumak Kawsay aus dem Quechua und benennt das Lebenskonzept der indigenen Bevölkerung der Andenregion. Im Zentrum dieses Gesellschaftsprinzips steht das materielle, soziale und spirituelle Zusammenleben einer Gemeinschaft, in der weder der Natur noch Individuen oder Gruppen geschadet wird. Das Konzept Sumak Kawsay/Buen Vivir ist eng verwoben mit dem Kampf nach Anerkennung, Gleichberechtigung und dem Erhalt der Lebensgrundlage der Andenbevölkerung.
Buen Vivir in der Verfassung zweier Andenstaaten
2008/2009 feierte die Indigenenbewegung einen Meilenstein: Buen Vivir wird Teil der Verfassung Ecuadors und Boliviens, mit dem Ziel „[…] eine neue Form des Zusammenlebens der Bürger und Bürgerinnen in Vielfalt und Harmonie mit der Natur aufzubauen“(Acosta 2017: S. 17). Bemerkenswert ist die Nennung der Pachamama, der Mutter Erde, als Rechtssubjekt in der Verfassung Ecuadors. In der Verfassung wird der Pachamama, der Göttin für alles Lebendige, die Bewahrung ihrer Existenz und Schutz zugesprochen. Die mangelhafte gesellschaftspolitische Umsetzung dieses Prinzips wird bis heute vielfach kritisiert (vgl. Löffler 2012).
Die Rechte der Natur in der Verfassung Ecuadors, Kapitel 7, Artikel 71-74.Inzwischen üben unter dem Begriff Buen Vivir immer breitere lokal und international vernetzte Bewegungen Kritik an „extraktivistischen“ Bestrebungen. Sie machen damit auf sozialökologische Folgen des stetigen Entwicklungs- und Wirtschaftswachstums aufmerksam. Dem Wirtschaftswissenschaftler Alberto Acosta zufolge muss sich nach dem Ideal des Buen Vivir „[d]ie Wirtschaft […] der Ökologie unterwerfen“ (Acosta 2017: S. 194).
Belege:Acosta, Alberto (2017): Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben. München. S. 17; S. 194.
Löffler, Bernd (2012): Heuchlerische Pachamisten. In: Quetzal – Politik und Kultur Lateinamerikas, http://www.quetzal-leipzig.de/lateinamerika/bolivien/heuchlerische-pachamamisten-19093.html (letzter Zugriff: 06.12.2020).
Political Database of the Americas (2008): Republic of Ecuador. Constitution of 2008. In: Walsh School of Foreign Service, Georgetown University, https://pdba.georgetown.edu/Constitutions/Ecuador/english08.html (letzter Zugriff: 15.01.2021).
Buen Vivir: Drei Zentrale Themen und Forderungen
1. Die Rechte der Natur sollen berücksichtigt werden. Das Konzept Buen Vivir sieht „[e]ine der großen Aufgaben [...] darin, die Trennung von Natur und Mensch aufzuheben“ (Acosta 2017: S. 36). Eine zentrale Rolle spielt dabei die Pachamama, Mutter Erde, aus der alle Ressourcen, alles Lebendige hervorgeht. Buen Vivir fördert somit insgesamt eine „biozentrische“ Grundhaltung.
2. Im Konzept Buen Vivir werden wirtschaftliche Prozesse durch Menschlichkeit und Solidarität bestimmt. „‚Gutes Leben‘ für alle, nicht ‚Dolce Vita‘ für wenige“, fasst Alberto Acosta die wirtschaftlichen Ziele des Lebensideals zusammen, das ein friedliches Zusammenleben der Menschen ermöglichen soll (Acosta 2017: S. 177).
3. Das dritte Anliegen ist die Forderung nach Plurinationalität und Demokratie, die jegliche Form von Diversität anerkennt.
„Auf Tuchfühlung“ — eine konsumkritische Straßentheateraktion für Buen Vivir
Mit der Straßentheateraktion „Auf Tuchfühlung“ erarbeitete die Theatergruppe (AGB Theaterpädagogik-Lehrgang in Zusammenarbeit mit Südwind Wien) mit den Methoden des Theaters der Unterdrückten eine Performance, die Verantwortlichkeit und Handlungsmacht der Konsument*innen aufzeigte. Neben der Darstellung des gegenwärtigen Konsumverhaltens im Überfluss stellte die Gruppe einen Wandlungsprozess auf der Basis ihrer Interpretation des Konzepts Buen Vivir – Gutes Leben für alle in der Kleidungs- und Konsumgüterindustrie dar.
„Es geht nicht darum, die Natur zu schützen oder die Welt zu retten. […] Aber das sind unsere Lebensgrundlagen, Lebensvoraussetzungen, die wir vernichten. […] Ich glaube unsere Aufgabe, unsere Vision ist, darauf hinzuweisen“ (Walter, Südwind Wien, persönl. Interview, Wien, 27.08.2020).
Idee, Inszenierung und Spiel: Gruppe des AGB Theaterpädagogik-LehrgangsLeitung: Michael Wrentschur und Lisa Kolb-Mzalouet
In Zusammenarbeit mit Südwind – Wien: Walter Bauer
Musik: Niklas Satanik
Kamera: Martin Sternsberger, Kerstin Dohnal
Schnitt: Kerstin Dohnal Beschreibung und Beobachtungsprotokoll der Straßentheateraktion
Datum und Ort der Aufzeichnung: 8.8.2020, Mariahilfer Straße
Aufzeichnung und Schnitt: Veronika Gmeindl
Nachbereitung: Michael Eisl
„Auf Tuchfühlung“: Theater als Selbstermächtigung
Die Informationen über negative sozialökologische Folgen in Verbindung mit den eigenen Konsumgewohnheiten lösen bei den Darstellenden Gefühle von Handlungsunfähigkeit aus, die von ihnen mit „Schockstarre“ und „kognitiver Dissonanz“ betitelt werden. „Wir haben es [die Performance] ja auch für uns gemacht, um eine Möglichkeit zu finden, mit dem Thema umzugehen.“ Diese Darstellerin, die sich hier zu Wort meldet, sieht in der theatralen Auseinandersetzung eine Möglichkeit, sich des eigenen Konsumverhaltens und der Wirkungszusammenhänge bewusst zu werden und somit Handlungsoptionen zu eröffnen (Melina, Darstellerin, persönl. Interview, Wien, 07.01.2021).
Das Theater der Unterdrückten
Das Theater der Unterdrückten (TdU) ist eine vom brasilianischen Autor, Theatermacher und -theoretiker Augusto Boal entwickelte Theaterform, die den Dialog zwischen allen Teilnehmenden sowie politisches Handeln anregt. Aufbauend auf der Darstellung unterschiedlicher Lebensrealitäten der Spielenden und Zuschauenden sah Augusto Boal die Hauptaufgabe des TdU in der „Übereignung des Theaters an den Zuschauer“, herbeigeführt durch die Übertragung der Handlungsmöglichkeit und Verantwortlichkeit (Boal zitiert nach Henry Thorau 2013: S. 14).
Beleg: Boal, Augusto (2013) zitiert nach Henry Thorau: Theater der Unterdrückten. Hrsg. und aus dem Brasilianischen übers. von Marina Spinu und Henry Thorau, Frankfurt am Main, S. 14.„Auf Tuchfühlung“: Visionen und Handlungsmöglichkeiten für Konsument*innen
In der Straßentheateraktion „Auf Tuchfühlung“ symbolisiert ein zentral angelegter großer Kleiderhaufen das maßlose Konsumverhalten und die textile Überproduktion.
Im Verlauf der Performance wird zudem eine unter dem Haufen verborgene Figur sichtbar. Im persönlichen Interview mit Darstellerinnen* wurden verschiedene Assoziationen zu dieser Figur genannt: „[…] kollektives Bewusstsein, […] Pachamama, […] Einzelschicksale, […] eine Näherin aus der Textilindustrie, die produziert, die ausgebeutet wird“ (Bernadette, Darstellerin, persönl. Interview, Wien, 12.08.2020).
Auch Konsument*innen verantworten Lebensgrundlagen und Lebensrealitäten der Produzent*innen von Kleidung. Durch bewussten Umgang mit Informationen erhalten Konsument*innen die Macht und die Möglichkeit, mit ihrer Kaufentscheidung eine wertschätzende Haltung im Sinne angemessener Bezahlung und ein Miteinander auf Augenhöhe zu fördern und im Kollektiv politisch einzufordern.
Informiere dich:
Der Fashionchecker der Clean Clothes Kampagne https://cleanclothes.at/de/fashion-checker/
Die Protestaktion des Straßentheaters stellte solidarisches Wirtschaften mit den Ressourcen, die die Menschen zum Leben brauchen, durch zwei wiederkehrende Kreisläufe der Textilien dar. Auch die Darstellerinnen* reflektierten während der intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema ihren Kleidungskonsum. Die darstellende Schauspielerin Karin betont, dass es ihr wichtig ist, den Neukauf von Kleidung zu reduzieren. Zunehmend tauscht sie Kleidung mit Freund*innen statt sie wergzuwerfen und verlängert dadurch die Lebensdauer der Textilien (Karin, persönl. Interview, Wien, 14.08.2020).
Die Beziehungen der Menschen zueinander sowie das bewusste, nachhaltige Handeln in Bezug auf grundlegende Ressourcen werden in der Buen Vivir-Straßentheateraktion zum Ausgangspunkt einer wertschätzenden Interaktion. In der Performance kommt dies durch achtsamen Umgang mit Stoff zum Ausdruck.
„Man ist mit etwas in Beziehung, sobald ein Bewusstsein dafür da ist, dann ist ein Kontakt da“ (Melina, Darstellerin, persönl. Interview, Wien 07.01.2021).
Literatur:
Acosta, Alberto (2017): Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben. München.
Boal, Augusto (2013) zitiert nach Henry Thorau: Theater der Unterdrückten. Hrsg. und aus dem Brasilianischen übers. von Marina Spinu und Henry Thorau, Frankfurt am Main.
Löffler, Bernd (2012): Heuchlerische Pachamisten. In: Quetzal – Politik und Kultur Lateinamerikas, http://www.quetzal-leipzig.de/lateinamerika/bolivien/heuchlerische-pachamamisten-19093.html (letzter Zugriff: 06.12.2020).
Political Database of the Americas (2008): Republic of Ecuador. Constitution of 2008. In: Walsh School of Foreign Service, Georgetown University, https://pdba.georgetown.edu/Constitutions/Ecuador/english08.html (letzter Zugriff: 15.01.2021).
Siefkes, Christian (2014): Wie der Kapitalismus entstand. Und was uns das über die Entstehungsvoraussetzungen der nächsten Gesellschaft lehrt. In: Streifzüge 60, S. 23-27, https://www.streifzuege.org/2014/wie-der-kapitalismus-entstand/ (letzter Zugriff: 05.12.2020).